Briefe einer Sängerin

Hier erscheinen die Berichte einer Sängerin, die bei mir als Alexander Schülerin seit Juli 2017 bei mir Einzelstunden nimmt und Ihr Erfahrungen mitteilen möchte. Es ist eine reale Person, auch wenn wir keinen Namen mitteilen. Da Sie von auswärts kommt und viel tourt findet der Unterricht in unregelmäßigen Einheiten statt.

1. Stunde:OLYMPUS DIGITAL CAMERA
S wie Anfang

Es ist der Klassiker: Jetzt, wo der Erfolg langsam kommt, streikt der Teil meines Körpers, den ich am meisten bräuchte: Die Stimme!
Die innere Schweinehündin hat also keine Argumente mehr. Ich mache mich auf die Reise: Endgültiger Abschied von der vagen Hoffnung „Mein Körper wird’s schon alleine richten!“ und Annahme der Aufgabe, mich aktiv einzubringen in… – tja in WAS eigentlich? In eine lebenslange Aufgabe wie ich den Laden kenne… In das Forschen zu der Frage: „Wie kann ich auf der Bühne entspannter sein und dadurch der Heiserkeit vorbeugen, die mich seit einiger Zeit chronisch plagt?“

Warum jetzt? – Jetzt, weil der Rücken seit Langem jammert – gute Vorsätze haben mich schon oft zu vereinzelten Stunden Alexander und zu langwierigen Behandlungen bei der Physiotherapeutin sowie zu akuten Kriseninterventionen beim Orthopäden gezwungen.
Jetzt. Weil ich an der Schwelle stehe. An der Schwelle vom Semi-Profi zum Voll-Profi. Jetzt. Weil ich einen anderen Umgang mit mir und meinem Körper brauche, um auf der Bühne täglich und zuverlässig gute Leistungen zu erbringen ohne mich in einen Teufelskreis von Heiserkeit und Gegenmittelchen zu bringen. Und das entspannt und mit Freude, bitte sehr! Kortison ist jedenfalls keine Lösung und scheint es sogar eher schlimmer zu machen. Jetzt. Weil der Run von Arzt zu Arzt keine Odyssee werden soll!
Ein „guter Gebrauch des Körpers“ ist nötig – so heißt das, glaube ich, in der Alexander-Sprache, wie ich im Vorgespräch lerne.

Klar gibt’s die Zweiflerin: „Pah, was soll das esoterische Zeug denn bringen!?! Das ist so unbewusst, darauf hast du keinen Zugriff! Das lässt sich nicht verändern! Und wer weiß, wie viel davon überhaupt an der Haltung liegt! Vielleicht ist es doch ein medizinisches Problem, das durch Pillen und Nahrungsergänzungsmittel zu lösen ist.“
Aber ich erinnere mich an die Anfänge in und nach meiner Schauspiel-Ausbildung: Meine Stimme zitterte vor Aufregung dermaßen, dass ich in den ersten Minuten auf der Bühne nicht singen konnte. Leider hieß das für Kurz-Auftritte, dass ich regelmäßig von der Bühne ging ohne ansatzweise gezeigt zu haben, was in mir steckt. Auch das Zittern und die Aufregung entzogen sich vermeintlich meiner Kontrolle, waren hochgradig unwillkürlich.
Aber inzwischen ist von dieser Blockade fast nichts mehr zu merken. Problem gelöst. Fazit: Es muss also möglich sein, so etwas zu verändern. Auch Festsitzendes. Muster, die wie Programme ferngesteuert ablaufen. Auch sie lassen sich umschreiben, löschen – um die Originaleinstellungen wiederherzustellen, die heilsamen, hilfreichen Reflexe, die schlauer sind als die drübersozialisierten Programme.

Und da war ich und tat den ersten Schritt in die richtige Richtung. Wörtlich! Denn – wie ich ja nach den Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren schon vereinzelt mit Alexandertechnik gesammelt hatte – wusste: Da war nix mit Liegen und Hand-auflegen lassen. Mitmachen heißt die Devise. Und Maike hatte mir erst heute erklärt: Am Ende einer Session das Neue über Bewegung in den Alltag zu integrieren sei ihr besonders wichtig.

Der Anfang war dann ein ebenso fließender Übergang: Wie so oft glitten wir aus dem Vorgeplänkel fast unbemerkt hinüber in die Arbeit. Wie ich saß, wurde mir bewusster. Und sanfte Hände luden meinen Körper ein, eine neue Haltung auszuprobieren. Zunächst im Sitzen, dann im Aufstehen, Gehen, Liegen. Und siehe da: Meine Wirbelsäule ist S-förmig! – Ja, mir ist natürlich klar gewesen, dass das anatomisch korrekt ist. Aber gespürt habe ich es nie. Es fühlte sich immer an, als sollte ich gerade sein und wär aber in mich zusammen gesackt.
Hände lockten mich wie einen Teleskopstock nach oben. Und verwundert stelle ich fest, dass ich die Welt aus einem neuen Blickwinkel betrachte. – Im übertragenen Sinne (denn von oben und von hinter mir, wo ich mich jetzt gefühlt befinde, sieht die Welt ganz anders aus und ich bin viel wichtiger und gelassener) – aber auch im Wortsinn: Denn ich stellte plötzlich fest, um mehrere Zentimeter gewachsen zu sein. Plötzlich war ich mindestens genau so groß wie die Frau, die mir etwas über ganz neue Welten wie „das Ei“ und den „Latissimus“ erzählte! Kaum zu glauben! Wenn es so weiter geht, muss ich wohl meinen Perso ändern lassen und mir einen größeren Mann suchen!

Aber Spaß beiseite: Wenn ich die Welt so einlade, zu mir zu kommen, statt mich ihr entgegen zu beugen und Lasten auf meinen Schultern zu tragen, wachse ich bestimmt in meine neue Rolle als Vollzeitkreative hinein. Das Kleid der neuen Identität, das mir gefühlt auf Zuwachs gekauft schien, wird nicht mehr lange zu groß sein. – Wobei ich auf der Bühne ja spannenderweise ohnehin immer größer bin als im Leben als Privatperson. Oder wie mein Kollege immer beim Einleuchten halb im Scherz zum Lichttechniker sagt: „Richte die Scheinwerfer auf die richtige Größe aus!“ – Was er damit meint? Der Lichtkegel soll mehrere Zentimeter über den Kopf des geknickten Wesens scheinen, das ich vor meiner Verwandlung in die Diva bin. Denn die Bühnen-Frau in mir ist nicht nur wegen ihrer Absätze aufgerichteter als… ich.

Ein Wohlgefühl bleibt mir nach der Stunde. Und ich bin sicher, beim Einschlafen werde ich meinen Brust- und Nackenbereich liebevoll auffordern, noch mehr Gelassenheit zuzulassen.

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2. Stunde:
Der Boden küsst mir die Füße

Die Schweinehündin ist nicht ganz besänftigt, sondern bellt noch. Mich selbst vor der nächsten Stunde nach meinen Hausaufgaben fragend muss ich gestehen: Ich habe am ersten Abend tatsächlich meine Schulter-Nacken-Partie eingeladen sich zu entspannen (und entschlummernd die Frage gestellt, wie das in unorthodoxer Seitenlage möglich sein soll bitte sehr). Aber die Übung mit dem Kopf in den Händen und das Liegen auf Büchern habe ich nicht ein Mal gemacht, sondern immer auf später verschoben. Bis es ZU spät war.

Aber immerhin: Ich habe gelesen. Der Weg führt bei mir ja oft übers Verstehen. Und wirklich: Ich habe mich geradezu am empfohlenen Buch festgelesen: In „Hilfe aus Dir selbst“ beschreibt eine Schülerin Alexanders die Technik und ihre Entwicklung und Anwendung durch Alexander. Und ich komme aus dem Staunen und Hoffen nicht mehr raus: Er hat die Methode erfunden, weil er als Schauspieler auf der Bühne so heiser wurde, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte! – Das ist ja wie bei mir! Dann muss es doch ein gangbarer Weg sein, das zu verhindern, was ich am meisten fürchte: Dass ich meinen kreativen Traum begraben muss, nachdem er endlich endlich nach schweren Wehen das Licht der Welt zu erblicken im Stande ist.
Der physische Kloß macht mir einen emotionalen Kloß im Hals: Gerade war ich wieder einen Tag fast gesund gewesen, da hatte ich schon wieder Halskratzen! Erkältungsvorboten? Am Tag meiner ersten Alexanderstunde waren die Symptome fast abgeklungen – nun sind sie wieder da. Und mit ihnen die Angst: Werde ich bei der nächsten Vorstellung gesund sein? Werde ich singen können? Oder muss ich wieder absagen?
In dem Buch, das ich verschlinge, werden Folgen vom falschen Gebrauch des Körpers und dadurch bedingtem falschen Atmen besprochen, die meinen Symptomen ähneln: Heiserkeit, Infektanfälligkeit, Hohlkreuz, Asthma und andere mehr. Ich erkenne mich wieder und bin entsprechend hochgradig motiviert – auch wenn ich dabei vermutlich in ebenso hochgradig unkorrekter Haltung auf der Couch fläze….

„Haltung“ würde man übrigens in der Alexandertechnik nicht unbedingt sagen, erfahre ich bei Stunde zwei im Austausch über meine Erlebnisse. Denn das Wort suggeriert eine starre Position, die man gezielt einnehmen muss. Bevorzugt spricht man also von Ausrichtung und hofft, dass das Bild dazu hilfreicher ist: Auf keinen Fall fixiert und erstarrt. Sondern in ständiger Bewegung. Dem Himmel entgegen, dem Boden entgegen, der Welt drumherum entgegen…

Heute beginnen wir – auf meinen Wunsch hin – im Liegen. Typisch für mich: Wenn ich die Wahl hab, lege ich meinen Körper ab, denn es ist so anstrengend, ihn mit mir herum zu schleppen.
Maikes Hände bringen zunächst meinen Kopf dazu, mit jedem Atemzug neue Wege zu gehen: Statt wie sonst im Nacken nach hinten einzuknicken, wachse ich nun über mich hinaus. Was für ein Erfolgserlebnis, als ich spüren kann, wie die Muskeln an Schädelbasis und Nacken sich anspannen als ihnen die übliche Bewegung verweigert wird! Sie wollen abknicken! Das ist fühlbar. – Und: Wenn ich es selbst erleben kann, kann ich beginnen, es zu verändern!
Durch Berührung und Bewegung werden meine Schultern und Beine herausgearbeitet. Ich spüre mehr Kontur – aber sonst ist es schwer, den Unterschied festzustellen oder gar aktiv aufrecht zu erhalten.
Als ich mich entspannen will, ertappe ich meinen Kopf bei der Rückwärtsbewegung – Punkt für mich! Es fängt an, mir bewusst zu werden. Interessant, dass ich diese Kopfstellung mit Entspannung assoziiere! Auch Erschrecken und jede plötzliche Aktion wirft den Kopf ruckartig zurück, wie ich nun mitbekomme. Wie schnell mir das bewusster wird! Ob es wohl einen Zusammenhang gibt zwischen dem Abknicken im Hals und den sich zuweilen bei innerer Anspannung zusammenziehenden Muskeln an den Knubbeln unten am Schädel?
Meine Beine werden nach dem Arbeiten mit ihren Muskeln und Knochen (Wusste gar nicht, dass man Sitzhöcker bewegen kann!) vorsichtig wieder auf den Boden gestellt. Die Aufgabe: Den Kontakt spüren. Wenn das Leben immer so ein Sinnes-Genuss wird – herrlich! Das fühlt sich zärtlich und leicht an. Als würde der Boden meine Füße küssen.

Als ich in den Stand komme, kann ich mich im Spiegel sehen und bin geflasht: Nicht nur, dass ich mehr Schultern habe. Ich stehe auch viel aufrechter! Und ich schaue so entspannt! Fast wie ein anderer Mensch. Gelöste Züge sehen mich an und zupfen mir am seelischen Ärmel: Wir wollen immer so tiefenetspannt sein!
Aber es schmerzt im Hohlkreuz, wo ich oft das Gefühl habe, auseinander zu brechen; fast jeden Morgen tut es hier weh. Und jetzt auch. Warum auch immer. Vielleicht habe ich mich wieder so versteift bei dem Versuch, alles richtig zu machen und mir nur ja zu merken, wo was sitzen soll… Das kenne ich schon von meinen ersten Erlebnissen mit dieser Technik. Damals war meine Rücken-Problematik akut und ich konnte bei den ungewohnten neuen Positionen kaum locker lassen. Inzwischen ist es viel leichter. Und als Maike mich auffordert, beim Gehen alles in Bewegung zu entlassen, wird es besser. Kurze Zeit später sind die Schmerzen weg. War wohl ganz schön viel Neues heute!

Erst im Nachgespräch fällt mir plötzlich auf, dass ich mich nicht räuspern muss und dass meine Stimme kaum belegt ist. – Wow!

Nach der Stunde gehe ich an einem Spiegel vorbei und sehe erstaunt: Mein Bauch, der immer ein weg aussieht als wäre ich schwanger, ist deutlich nach innen verschoben. Er sieht fast normal aus! Kaum zu glauben! Viel schöner so!
Ich bin von den Socken! Ich habe oft versucht, meine Haltung so zu verändern, dass der Bauch weg ist. Ich konnte es nicht mal für Sekunden erreichen. Ich fand einfach keine Position, die den Bauch nach Innen bringt. Und nun ist es möglich! Quasi von allein! Wie schön wäre es, dauerhaft eine geschlossenere Form zu bekommen!

Den Tag über beschäftigt mich die Stunde sehr: Hoffnung und Zweifel ringen miteinander: Wie lange wird all das halten? Wird es dauerhaft veränderbar sein? Ist es möglich, dass so viele verschiedene Einschränkungen alle durch diese Methode geheilt werden können!?! Kann das wahr sein? Warum hat mich nicht längst ein Arzt hier her geschickt, wenn es so etwas gibt?
Aber auch die Schweinehündin streunt noch herum in meinem Kopf: Flacher Bauch schön und gut! Aber: Will ich mich wirklich darauf einlassen? Das klingt alles nach total viel Arbeit! Ich konnte mich ja noch nicht mal überwinden, die kleinen Übungen zu machen, die im Buch stehen! Ich kann doch nicht lebenslang jeden Augenblick des Tages darüber nachdenken, wie meine Knochen stehen!
Mut gibt mir, was im Gespräch darüber klar wurde: Irgendwann wird mir diese Wahrnehmung nicht mehr so viel Zeit und Mühe abverlangen, sondern nebenbei laufen. Ich vergleiche das mit meiner Fähigkeit, seelisch nach innen zu schauen. In Sekundenbruchteilen kann ich mir bewusst machen, was in mir vorgeht. Ich kann Gefühle benennen. Ich erkenne, in welchen alten Mustern ich stecke. Und bei den bekannteren komme ich recht schnell raus oder weiß zumindest, was ich brauche. Auf dem Weg zu diesem Grad der Reflexion hat eine Innenschau oft lange gedauert und es hat Tage und Wochen gebraucht, bestimmte innere Anteile kennen und benennen zu lernen. Dieser Sinn ist nun geschärft und läuft mindesten halb bewusst im Untergrund mit. Ich weiß, wie es mir geht und was in mir vorgeht oder kann es mir zumindest schnell bewusst machen.
So ähnlich stelle ich mir den Lernprozess mit Alexandertechnik auch vor: Irgendwann braucht das keine extra Kapazität mehr, sondern steht mir als Information jeder Zeit abrufbereit zur Verfügung. Und das geht schon los:

Den Rest des Tages über ertappe ich mich immer wieder dabei, wie mein Kopf nach hinten wandern will. Ha! Dieses Muster habe ich durchschaut!
Zwar bin ich nicht ganz sicher, wo der Kopf stattdessen sitzen soll. Aber weiter vorn/oben ist klar. Ohne Knick. Ich korrigiere mich, wann immer ich es merke. Beim Anheben vom Gartenstuhl; im Beifahrersitz; beim Warten auf den Ausstieg aus dem Zug – ich kann es sogar in der Spiegelung in der Tür sehen. Auch beginne ich zu ahnen, wie das mit Bauch und Hohlkreuz in Verbindung steht. Hängt eben alles zusammen.
Ob das wohl diese „Primär-Kontrolle“ ist, um die es im Buch dauernd geht?

Ich komme verwirrt aus der Stunde. So viel, was ich noch nicht verstehe, nicht nachvollziehen kann! Diese gute Art der Verwirrung, wenn man Neuland betritt. Meine innere Landkarte besteht fast komplett aus weißen Flecken.
Aber einen Strohhalm gibt es: Ich merke, wenn der Kopf sich zurück bewegt. Da setze ich an!

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3. Stunde:
Keine Geschichten!

Nach Wochen ohne Unterricht, die ich durch Bücher von Alexander und durch etwas, das man in der Alexandertechnik nicht „Übungen“ nennt, zu überbrücken versuchte, endlich wieder eine Stunde!

Wieder beginnt es im Liegen. „Kann da in Schultern und Nacken noch mehr Gelassenheit sein?“ Verlängerung der Knochen. Der Boden empfängt meine Füße. – Schon bekannte Aufforderungen. Aber wieder neu. Und gar nicht so einfach, noch mehr zu lassen. Oder – vielleicht treffender gesagt – noch weniger zu tun. Denn als ich von den Rückenschmerzen berichte, die mich zuweilen überfallen, wenn ich zu Hause meinen Kopf in die richtige Position bringe, erfahr ich: Es geht nicht darum, etwas zu tun. Sondern es geht darum es nicht zu tun. Nicht zu tun, was die gewohnten Muster sonst tun.
Noch ein bisschen rätselhaft. – Ist mein Kopf zu Hause nicht einfach immer in der falschen Haltung? Wie soll ich denn vorher loslassen, wenn es kein vorher gibt? – Aber die Verheißung auf einen anderen Ansatz, der weniger schmerzhaft ist. Wie viele scheinbare Paradoxons wird sich diese Instruktion vermutlich nach und nach beim Anwenden erschließen.
Das erste Aha-Erlebnis konnte ich schon in der Vorbereitung sammeln als ich die Bücher zunächst mit gewohnt abgeknicktem Nacken und dann ohne diese vermeintliche Hilfsbewegung auf der Decke positionierte. Aha! Da war es wieder, was ich auch im Alltag immer mehr bewusst kriege: Viele Aktionen beginnen mit einem Abknicken des Halses nach hinten. Das ist gar nicht nötig. Das kann ich lassen bevor es passiert.

Ein großes Aha ist auch, dass sich die Muskeln von selber entspannen, wenn ich hilfreiche Bilder visualisiere. Besonders deutlich wird mir das, als Maike mich bittet, meine Zunge zu empfinden und sie gedanklich mit der Speiseröhre, dem Magendarm-Trakt und dem Anus zu verbinden. Klingt nicht so lecker. Wirkt aber: Kaum merklich für mich aber sehr deutlich für Maikes geschulte Antennen kommt mehr Gelassenheit in den oberen Teil meines Rumpfes.
Mund und Zuge mit Blick und Hinbewegung folgend fühle ich mich wach, lauernd und potenziell schlagkräftig wie eine Raubkatze. Wenn ich das Publikum so betrachte, wie diese Raubkatze – hui! Geballte Power.

Als meine Flügel aus meinen Rippen gezogen werden, hören die darin seit einer verlegenen Nacht schmerzenden Muskeln endlich auf wehzutun.. Hmmmmmh! Ob diese rheumatische Müdigkeit in meinen Gliedern wohl durch Alexandertechnik weg geht?

Ins Stehen gekommen, sprechen wir über Lampenfieber. Mein Job vorm nächsten Auftritt: Nur fragen, ob da noch mehr Gelassenheit rein kann.. Vielleicht sogar auf der Bühne.
Die größte Erkenntnis und zugleich die größte Herausforderung für heute: Vor dem Auftritt das Lampenfieber wahrnehmen. Nur wahrnehmen: „Aha, Herzklopfen. Aha, schneller Puls. Aha, Verspannung….“ Nur wahrnehmen, nicht bewerten. Nicht begründen, an welchen Ereignissen in der Vergangenheit das liegt. Keine Katastrophen für die Zukunft ausmalen. Nur im Hier und Jetzt wahrnehmen. Keine Geschichten! Dann hat die Angst keine Macht über mich, sagt Maike – und ich bekomme tatsächlich eine Wahlmöglichkeit.
Ich kenne das ein wenig. So oder so ähnlich. Wenn ich spiele, spaltet sich manchmal mein Geist. Während die eine Hälfte weiter den Text abspult und sich bemüht, die Rolle zu verkörpern, tritt ein Teil aus mir heraus. Dieser Teil beobachtet mich, bewertet mich, kritisiert mich und befürchtet das Schlimmste. Aber diese wild gewordenen Kritiker und Katastrophenlüstlinge, um mit Schulz von Thun zu sprechen, führen erst das herbei, was sie befürchten: Ich verliere den Faden und ‚Bumm!‘ mache ich einen Patzer, habe einen Texthänger, verhaspele mich oder lasse im Ausdruck nach. Ich habe gelernt, mich zurück zu holen, wenn ich merke, dass ich aus mir raus trete. So ähnlich stelle ich mir auch die neue Anweisung vor: Physiologische Merkmale wahrnehmen. Aber die Gedanken liebevoll bremsen, wahrnehmen und ziehen lassen.
Keine Geschichten!

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4. Stunde:
Bevor ein Lied meine Lippen verlässt –
oder
Erlebnis statt Ergebnis

Nach der gestrigen Stunde fühlte ich mich auf einmal so jung. Mein Körper bewegte sich einfach und geschmeidig und die Steifheit des Älterwerdens war wie weggeblasen. So kann ich mir auch wieder vorstellen, dass Bewegung keine Anstrengung, sondern Vergnügen, ja Bedürfnis ist!
Morgends – noch verschleimt und nicht ganz wach – sieht nun die Welt aber schon wider ganz anders aus…

Wir beginnen im Liegen und ich möchte am liebsten für immer so liegen bleiben und diese Hände spüren. Wie sie mit sanften Fingerkuppen meinen Nacken einladen, seine natürliche Position zu finden. Wie sie sich unter meinen Körper arbeiten und ihm zeigen, wie er sich von der Erde tragen lassen kann. Wie er bewegt und wach in Ruhe sein kann.
Jetzt verstehe ich, was die Vorstellung der verlängerten Knochen bewirkt. Als mein Oberschenkel in den Boden sackt, organisieren sich die Muskeln neu, lassen den Knochen machen und es entsteht ein Gefühl wie in der Tiefenentspannung. Und ich kann so etwas Verrücktes fühlen wie Platz zwischen den Knochen in den Gelenken! Meine Gliedmaßen sind auf einmal unendlich leicht.

Das Abgefahrenste ist das Entspannungsgefühl in meiner Gesichts- und Nackenmuskulatur als Maike mir zeigt, wo der Kopf sich auf der Wirbelsäule bewegt: Nicht – wie ich wohl dachte – beim 4. Halswirbel. Sondern auf dem ersten, der viel weiter oben sitzt als ich angenommen hatte, nämlich hinter der Nase.

Maike bittet mich zu empfinden, dass Wellen durch meinen Körper gehen. Und tatsächlich fühle ich mich als läge ich im Spülsaum. Und als die Welle sich dem Strand nicht weiter nähert, sondern aufs offene Meer zurückkehren möchte, gehe ich mit und setze mich auf. Maike sagt mir, so könne ich die Erfahrung machen, dass ich aufstehe ohne mich in der Wirbelsäule zusammen zu ziehen.
Was ich erleben kann ist, dass die Bewegung mit der Welle wie von selbst geschieht. Mit dem Fluss oder mit Schwung sozusagen.
Die Wellen sind bei mir mit dem Ausatmen verbunden. Aber Maike sagt, das ist nur ein Konzept und kann auch anders sein. Hm. Werd ich ausprobieren, wenn ich das nächste Mal aufstehe.

Als Maike mich bittet zu singen, mache ich vorsichtig ein Aufwärm-Uh, denn es ist noch früh am Tag. Irgendwie finde ich in meinem plötzlich ungewohnt langen und andersartig organisierten Hals meine Stimmbänder und Muskeln nicht recht. Wie in einem frisch aufgeräumten Arbeitszimmer, in dem man plötzlich nichts mehr wiederfindet, was doch im scheinbaren Chaos immer verlässlich auf dem selben Haufen lag. Gefühlt krächze ich unbeholfen – aber ich höre mich nicht wirklich, weil Maikes Hände über meinen Ohren liegen, um den Kopf an seinen neuen Platz zu erinnern.
Eklatant ist die Reaktion der Muskeln, die meinen Kopf bewegen. Sie wollen ihn direkt nach hinten abknicken.
Dann tun wir etwas, das ich schon aus der Literatur kenne: Damit das Ziel nicht im Weg ist, bittet Maike mich immer wieder beim oder auch vor dem Singen zu stoppen. Wichtig ist nicht das Ergebnis, sondern das Erlebnis! Wenn der Ton aus meinem Mund raus ist, kann ich nichts mehr tun, er ist weg. Bevor er aber hinaus in die Welt geht kann ich ihm Spielraum geben.
Langsam finde ich mich wieder in meiner Kehle zurecht. Und die „Uhs“ können schwingen. Und sie finden ungewohnt schnell die Räume oben im Kopf. Fast sehe ich wie auf dem CT (mit dem sie als Grund für meine häufigen Erkältungen die Situsitis diagnostiziert haben) die Nebenhöhle vor meinen inneren Auge. In diesen Sälen in der Kuppel schwingt der Klang.

Das wird meine „Hausaufgabe“: Mit dem Ton spielen bevor er meine Lippen verlässt. Ich kann noch nicht ganz erfassen, was das bedeutet. Aber es klingt als könne es mir Leistungsdruck nehmen, und mich in die Freude bringen.
Ich werde es ausprobieren. Beim Einsingen und auf der Bühne. Ich bin gespannt, was passiert, welche Erfahrungen ich mache.
Überhaupt wird es interessant, Alexandertechnik und Gesangsunterricht zusammen zu führen. Ich habe erlebt, wie ich etwas nach oben schauen kann, ohne dass der Kopf nach hinten abknickt. Das schien bislang ein Widerspruch zu sein: Beim Gesangsunterricht muss ich oft hoch schauen und ich fand keinen Weg, das mit der neuen Haltung zu tun. Nun merke ich: Es scheint sich nicht zu widersprechen! Ich werde es mal ausprobieren.
Und ich freue mich, dass Maike ankündigt, irgendwann mal mit zum Gesangsunterricht zu kommen. Das wird bestimmt helfen, die beiden Welten zu vereinen.

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